Cultura dell’ombra

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von Anke Sademann

Wer sich den ganzen Tag von den Kunst-vollen Eindrücken der Biennale genährt und sich an den lichten Kulissen satt gesehen hat, wird hungrig. Zum einen auf die leckere Cucina Veneziana und vielleicht auch auf ein bisschen weniger touristisches Mainstream-Getümmel. Mit Schildern mit der Aufschrift ‘no lasagne, no pizza, no menu turistico’ grenzen sich die echten Restaurants von den Neppfallen ab. Natürlich sind Klassiker wie die Pasticceria Rosa Salva, das Caffè Florian (Venedigs ältestes Café) oder auch das elegante De Pisis und I Figli delle Stelle ein Muss. Vor allem authentische Lokalitäten erden und entspannen den intellektuell vollgestopften Kopf. Besonders in den Vierteln Castello und Cannaregio findet sich noch die Ursprünglichkeit. Während die Venezianer ihre Alltagsbesorgungen mit ihren Carrettos (Handkarren) nach Hause bringen müssen oder sich auf einem der Gemüseschiffe von Sant’Erasmo noch mit castraure (jungen Artischocken) oder spareselle, jenem für seine Zartheit bekannten Grün-Spargel für das Abendmahl eindecken, streifen die temporären Besucher durch das Lagunenlabyrinth auf der Suche nach einem familiären Platz.

Stößt man mutig in die hinteren Stadtwinkel findet man, wenn man Glück hat, auf eine der rosticceria – kleine Take a ways und Minirestaurants, die man an den langen, üppig gefüllten Theken und dem grellen Neonlicht erkennt. Wie auf kulinarischen Altären sind die „Cichetti“ (Tapas-artige Häppchen) aufgebart. Sarde in saor (eingelegte Sardinen mit Zwiebeln, Rosinen, Lorbeerblättern und Pinienkernen), Kroketten mit Thunfisch, marinierter Pulpo, frittierte Reis- und Hackfleischbällchen (polpettine), Sardellenrollen, gegrillte Auberginen, fondi di carciofi (gebratene Artischockenböden), kleine Canapées oder Polentataler mit baccalà mantecato, einer sämigen Stockfisch-Creme, lassen keine Zunge trocken.

Und wenn doch, begießt man sein Glück mit einer Ombra in einer Bàcaro, einer der typisch und oft gut versteckten venezianischen Weinschenken. Die Bàcari sind die Osterias di Venezia. Sie sind eine soziale Instanz, haben oftmals unter 10 Stehplätzen und man ist dicht beieinander, um sich kurz auszutauschen. Die meisten haben schon mittags regen Betrieb. Ob Blaumann, Feierabend-Gondolieri, Student oder Geschäftsmann, in diesen schummerlichtbestrahlten Mini-Theaterbühnen mit Holz verkleideten Wänden und herrlichem Nippes wie Kupfertellern, Kesseln, Wandtellern, leuchtenden Madonnen in Minischreinen, aufgebarten Weinflaschen mit hinein gewehtem Straßenstaub und liebevoll handgemalten Weinkarten treffen sich die Einheimischen. Die Ombra ist ein Feierabendwein in Rot oder Weiß. Wörtlich übersetzt bedeutet Ombra übrigens Schatten. Aber Andare per ombre heißt nicht, sich in eine finstere Ecke einer Gassenwindung zu begeben.

Die Geschichte dahinter: Apulische Weinhändler sollen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als fahrende Schenken ihren Fasswein auf der Piazza San Marco ausgeschenkt haben. Um den Wein kühl zu halten, folgten sie dem Schatten des Campanile-Turms. 100 ml misst eine Ombra in der Regel. Wenn es noch weniger ist, spricht man neckisch von einer Ombretta, einem Schattenchen. Un’ombra bedeutet im Italienischen „eine kleine Menge“ von etwas. So trinkt man ihn ausschließlich in winzigen Gläsern. Die meisten Tröpfchen stammen aus dem venezianischen Hinterland oder dem nahe gelegenen Friaul. Pinot Bianco, Tocai, Cabernet, Chardonnay, Merlot oder Verduzzo landen con facilita ebenfalls im Glas. Leichte Weine sind gefragt. Die Zeit der sehr einfachen Armeleute-Weine ist vorbei, aber der Preis hat Tradition und liegt mancherorts sogar noch unter einem Euro.

Der Zweites-Wohnzimmer-Effekt ist seit Jahrzehnten der gleiche und das Geschmäckle auf der Zunge schießt sofort ins Herz und schmeckt nach piccolo eternità. Dieses Trinkritual soll angeblich in Venedig so an die 50.000 Glaseinheiten täglich praktiziert werden (die Frage ist nur, wer dies zählt). Zumal die kleinen Insider-Schenken in den Knicken und Ecken der Stadt nicht immer einfach zu finden sind. Gut situiert, voller und auch teurer sind der legendäre Bàcari Cantino Do Mori sowie die älteste Ostaria Antico Dolo nahe der Rialto Brücke. Unter einem Himmel voller Weinetiketten steht man in der Al Volto, die in einer Gasse nahe des Rathaus zu finden ist. Das Alla Vedova im weniger touristischen Cannaregio, einem der authentischsten Viertel mit gelebtem Veneziafeeling, braucht sicher mehr detektivisches Gespür. Hier trifft man garantiert nur Einheimische. Zur Osteria Al Portego navigiert man sich am besten bewaffnet mit einem Stadtplan.

Natürlich fallen auch die Bàcari der Schnelllebigkeit der Fastfood-Kultur und einer vermixten Trendy-Trinkkultur zum Opfer. Die nachrückende Generation nimmt sich auch in Venedig schnell mal ein Tramezzino oder ein Panini auf die Hand oder trinkt eben doch lieber den klassischen Venezia-Apéro uno spritz (Weißwein, Soda, Bitter mit Oliven) oder einen Bellini (Sekt mit weißem Pfirsich-Püree, ein Aperitif, der in Harry´s Bar erfunden wurde).

Damit Sie nicht gleich Commissario Brunetti bemühen oder Lost in Venezia! mit dem gusseisernen Löwenkopf an eine Pforte klopfen müssen, helfen wir mit ein paar Adressen und Wegbeschreibungen nach, um die Trinktempel zu finden, respektvoll und ein wenig andächtig zu betreten und damit ihre Kultur ein Stück lebendig zu halten. Salva i Bàcari! Salute – Cin Cin!

BÀCARI-ADRESSEN

Al Volto, Calle Cavalli di San Marco 4081: Uriges Bàcaro mit einer Decke voller Weinetiketten 



Alla Vedova, Ramo Ca d’Oro 3912: Traditioneller und unter Bewohnern beliebter Ort im einfachen Cannaregio-Gebiet

Cantina Do Mori, Calle do Mori 429: Die bekannteste und älteste Bacara nahe der Rialto-Brücke

Da Lele, Campo dei Tolentini 183: Zentral in Bahnhofsnähe liegt die wohl die kleinste Schattenbar Venedigs

Ostaria Antico Dolo, Ruga Vecchia San Giovanni 778: Das angeblich älteste Bàcaro 



Osteria Al Portego, Calle Della Malvasia, 6015: Beliebte Abendweinbar mit Kultstatus

 

Fotos: © Anja Hendrischk

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