Von Anton Hart
Adrenalin, Nervenkitzel und ein Freiheitsgefühl mit Kick liegen nah beieinander. Will man nicht permanent Achterbahn fahren oder Fallschirm springen, dann sucht man sich in jungen Jahren ein gleichwertiges Hobby mit ausgeprägtem Coolnessfaktor. Insbesondere individualisierte Bikes, wie die der Urban Dirt Bikers, haben das Potenzial zum starken Auftritt.
Ein Bike ist jedoch nicht nur Fortbewegungsmittel, sondern kann ebenso eine gefährliche Mischung zwischen Freiheitsdrang und Geschwindigkeitsrausch sein. Die Urban Dirt Bikers verkörpern diese Mischung in ihrer ausgeprägtesten Form. An Wochenenden treffen sie sich in verlassenen Industrieanlagen Londons, um ihrem Hobby nachzugehen.
Die Masken der Gruppenmitglieder erzeugen Distanz, Anonymität und auch Unwohlsein beim Gegenüber. Man fühlt sich an die Londoner Riots von 2011 zurückerinnert. Doch schaut man genauer hin, ist man als Außenstehender gleichzeitig fasziniert wie verwundert. Was treibt junge Menschen dazu, sich Wochenende für Wochenende auf verlassenen Industriegebieten am Stadtrand von London zu treffen?
„It’s not a hobby, it’s a lifestyle”
Es ist nicht der reine Nervenkitzel, der die Gruppe zusammenbringt. Für viele sind ihre Bikes weit mehr als ein Hobby – es ist das, was ihre Identität grundlegend prägt. Gerade in der britischen Hauptstadt ist die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten zwei Dekaden weit auseinandergegangen. Seit der Finanzkrise und dem Regierungswechsel wurden viele Jugendzentren geschlossen. Großinvestoren haben die Stadt fest im Griff. Wenige öffentlich-zugängliche Freiräume sind in der Stadt geblieben, und es macht sich ein Gefühl von Machtlosigkeit breit.
Einem Teil der Londoner Jugend fehlt es an Möglichkeiten, ihre Identität authentisch auszuleben. Früher war England stark von musikalischen Subkulturen geprägt, aber strenge Gesetze haben zu einem Clubsterben geführt. Die wenigen Optionen, die es noch gibt, sind für diejenigen, die Lust auf Abenteuer haben, zu teuer, zu aufpoliert und zu langweilig. Kein Wunder, dass sie ihre Identität woanders suchen und sich in rechtlichen Grauzonen wiederfinden. Die maskierten Biker sind keine wilden Gangs, die über andere herfallen. Sie besuchen selbst organisierte Events, wo sie das Zugehörigkeitsgefühl finden können, das ihnen die englische Gesellschaft schon lange verweigert.
Den Kick finden sie in Extremsituationen, den seltenen Augenblicken wo sämtliche Alltagssorgen und sogar das Gefühl von Zeit verschwindet und nur der Augenblick fokussiert wird. Solche Momente sind so intensiv und haben Suchtpotenzial, so dass viele bereit sind, ein hohes Risiko in Kauf zu nehmen. Die Urban Dirt Bikers haben ihre Passion dort gefunden, wo andere aus Sicherheitsgründen schon lange aufhören würden: an der Grenze zum Lebensbedrohlichen.
„Nothing apart from death itself can stop me from riding”, so The Real Izzy.
Izzy ist Begründer der Gruppe Super-Dupa-Moto (kurz: SDM). Er selbst wäre bei einem Unfall fast ums Leben gekommen: „Ich war einmal in einen schweren Unfall verwickelt. Ich starb praktisch an der Unfallstelle, aber der Luftrettungsdienst hat es geschafft, mich wieder zu beleben.“ Er versucht seither beim Fahren aufmerksamer zu sein, aber seine Haltung gegenüber Bikes hat sich nicht grundlegend verändert: „Um ehrlich zu sein hab ich nie daran gezweifelt, dass ich wieder aufs Bike steigen würde. Ich erinnere mich, wie ich aus dem Koma erwacht bin und sofort danach gefragt habe, wie’s mit meinem Bike aussieht und dass ich sofort wieder loslegen will. Ich glaube, dass nichts außer dem Tod mich davon abhalten könnte, mit dem Motorrad fahren aufzuhören.“
Auf die Frage, ob der Unfall ihn ängstlicher oder vorsichtiger gemacht hat, denkt er einen Moment nach: „Was wir machen ist gefährlich, aber wenn Du mit der Angst vor einem Unfall oder einer Verletzung fährst, wirst Du Dich genau in die gefährlichen Situationen bringen, die Du eigentlich vermeiden willst. Daher denke ich nicht ständig über die Gefahren nach. Aber der Spaß am Fahren und am Regeln brechen ist so groß, dass die Angst verschwindet.“
An den Unfall selbst kann sich Izzy nicht mehr erinnern: „Am 22. Dezember hatte ich meinen Zusammenstoß, und das Letzte, an das ich mich zuvor erinnern kann, war mein Geburtstag, der ein Monat zuvor war. Also fehlt ein ganzer Monat an Erinnerungen.“ Von einem Freund erfuhr er, dass er in einer Kurve übersteuert hatte und gegen einen Zaun geknallt ist. „Seit dem Unfall hab ich Titan im linken Arm und Fuß und kleine Bewegungseinschränkungen, aber nichts, was mich davon abhalten würde, meine Leidenschaft weiter auszuleben.“
Neben Super Dupa Moto gibt es noch zahlreiche andere Bikergruppen und -teams, die, wenn sie sich gemeinsam an bestimmten Orten treffen, zu einer gemeinsamen großen Gruppe mutieren. „Wir schauen uns dann die Skills der anderen Biker an und lernen neue Leute kennen, die alle dieselbe Passion haben. Wir alle sind da, um Spaß zu haben.“, so Izzy.
Zur Gruppe Super Dupa Moto gehört auch Naomi. Mit ihren Zöpfen und dem pinken Bike könnte sie einem japanischen Manga entsprungen sein und setzt zu den Testosteron geprägten Jungs auch optisch einen echten Kontrapunkt. Es gibt wenig Girls in der Bikerszene. Dass sie früh den Einstieg fand, liegt nicht zuletzt an ihrer Familie: „Ich bin, seit ich mit sechs Jahren mein erstes Dirt Bike – ein CRF 50 – bekommen habe, immer Roller gefahren. Mein Vater fährt selbst, meine Großmutter war noch mit 72 auf einer Yamaha ZX6, und mein Onkel war ein erfolgreicher Stunt Man. Ich war praktisch immer von Motorrädern umgeben. Als ich alt genug war, selbst ein Bike für die Straße zu bekommen, hab ich sofort zugeschlagen.“
Auf die Frage, ob der Einstieg in die von Männern dominierte Bikerwelt von großen Hindernissen geprägt war, antwortet Naomi schnell: „Ich würde nicht sagen, dass es für mich als Mädchen schwer war in die Szene zu kommen. Im Gegenteil, die meisten Jungs sind sehr dran interessiert, ein Mädchen zu sehen, das selbst fährt, und sie haben immer sehr offen mit mir geredet und mir Ratschläge gegeben. Ich habe allerdings schon ein paar Mal gehört, dass Leute sagen: „Du fährst aber gut für ein Mädchen“ und sowas hasse ich! Ich weiß, dass es ein Stigma gibt, dass Frauen nicht so gut mit Bikes umgehen können, aber das ist totaler Unsinn.“
Das, was viele andere Mädchen in ihrem Alter machen, interessiert Naomi nicht. Anstatt ihr Geld für Kleidung oder Clubabende auszugeben, investiert sie lieber in ihre Motorradausrüstung. „Ich würde auf jeden Fall behaupten, dass das Bike ein Teil meiner Identität ist.“ Sie geht Wochenende für Wochenende ihrer Leidenschaft nach und übt mit ihrer Crew. Vorurteile bekämpft sie dabei am besten durch ihr eigenes Fahrkönnen, dem sie mit ihren rosafarbenen Outfits einen bewusst inszenierten Auftritt verleiht. „Ich trage gerne pink. So wissen alle, dass ein Mädchen an ihnen vorbeifährt“, kommentiert sie lachend.
Spencer Murphy, der bekannte in London lebende Fotograf, hat die individuelle Lebenswelt der Urban Dirt Bikers eindrucksvoll in seinen Bildern festgehalten. Er konnte das Vertrauen der Gruppe gewinnen, um so einen intimen Einblick in eine für uns so fremde Welt zu gewähren. Die Biker-Portraits werden in dem Buch „Urban Dirt Bikers“ als spannende Geschichte in Bildern erzählt.
Urban Dirt Bikers‘ by Spencer Murphy is published by Hoxton Mini Press (£17.95, www.hoxtonminipress.com)
Der Beitrag Born to Ride erschien zuerst auf Motion.