von Anke Sademann
Auch wenn sie unter der Gürtellinie sitzt, hat jede Denim Jeans ihr eigenes Gesicht – ist Persönlichkeitsspiegel ihres Trägers und seit über 150 Jahren eine Textilikone. Everybody loves. Manche haben ihr sogar ihr Leben verschrieben. Die Zeit lässt ihre Gebrauchs-, aber auch trendzyklischen Spuren auf dem ewigblauen Kulturgewebe. Denim, jener robuste Baumwoll- und Hanffaserstoff, verkörpert archetypische Echtheit aber auch Rebellion, dabei war sie früher eine reine Arbeiterkluft. Wo läuft sie hin die Good Old Blue Jeans? Was sind die neuen Nahtstellen?
September 2017 – auf dem Catwalk irgendwo in Milano: Maskierte androgyne Wesen flanieren mit Denim „Kollagen“, die diagonal über ihnen hängen über den Steg – quervernäht, umgedreht oder sich kräuselnd baumeln sie an ihren Körpern herunter. Hosenbund und -beine hängen stulpenartig an den Knien. Die Textilien sind ausgefranst, gepatchworked oder inside-out. Das Oben wird zum Unten, die Hose zur Jacke. Drapiert, gestreckt, gerafft. Oder sie balancieren gleich ein Dutzend Jeans auf den Schultern. Der Playground verläuft von tief-indigo bis stone-washed-hell. Beim vierten von der ISKO I-SKOOL organisierten DENIM DESIGN Award mit dem Motto: GENDERFUL – VON UNISEX ZU MULTISEX hatten sich 60.000 Studenten aus international angesagten „Tomorrow Design-to-be Schulen“ Gedanken zu DENIM und seiner Zukunft gemacht. Die erste Lady Levi‘s 501 aus vorgewaschenem Denim (hohe Schnitt mit schmaler Taille) gab es übrigens erst 1934. Denim ist und bleibt ein Kulturphänomen, was sich in Look und Textur widerspiegelt. Und da alles schon mal da war, enden die Newcomer-Kreationen als wilder Mix aus Stilen und Identitätsausdrücken. Massimo Munari, lenkender Kunstdirektor für Creative Room, Isko Design-Think-Tank, wünschte sich von den Ergebnissen der 20 zukunftsweisenden Köpfe in der Endrunde neue Impulse, die neue Trends setzen. Für Amy White von AVERY DENNISON (Gold Partner und weltweit größte Anbieter von RFID-Technologie für die Bekleidungsindustrie) liegt der Fokus eher darin, wie man Innovationen und nachhaltiges Design mit technischem Fortschritt verbindet, um beispielsweise dem gerade hippen sporty, stretch und fit „athleisure“-Look entgegenzukommen. Aber was hat das noch mit der echten Blue Jeans zu tun? Denim kann zwar viel, aber bis dato nicht Joggingshose.
Das tagesformfreundliche 1,5 Prozent Elastan im Jeanstextil gibt es erst seit der „Neuzeit“. Die Blue-Jeans-Krise rund ums Millenium will keiner wiederholen, in der die LEVI Strauss & Co‘s, LEE Mercantile & Co‘s und Blue Bell‘s WRANGLERS (the big three) dieser Welt den Bedarf nach Skaterhosen (Go for it in den 90ern) mit lässiger Weite und tiefem Bund oder Baggy-Pants schlichtweg verschlafen hatten. Als Passformen der 70er bis 90er als Vintagemodelle dann in den letzten Jahren ihre Comebacks feiern, atmet die Branche auf und tobt sich aus. Das Experimentierfeld an Stilen, Farben und Waschungen explodiert förmlich. Auf der Liste: Boot Cut, Slim Fit, Tight Regular, Raw Denim, Rinse Washed, Destroyed Look, Boyfriend Style, Brushed Denim. Für den Shot-Gun-Look werden Jeans sogar mit Schrotkugeln malträtiert. Fast schon in geheimer Mission suchen Marken Kreativ-Denim-Nerds und schicken sie undercover in die Welt hinaus, um die Jeans zu performen – oder müsste man sagen transformieren? Statt Nasen für Parfums, gibt es die Hunter für die Jeans. Sie sind Spezialisten in Ihrem Metier, sehen aus wie Rockstars und treten nie öffentlich in Erscheinung. Denn sie sind die Hüter des Denimgrals und lassen sich häufig nicht nur an eine Marke binden. Ein Anonymous sitzt in London und mixt und experimentiert mit Denim auf seiner Dachtrasse, gräbt ein, schüttet Kaffee darüber und vieles mehr. Auch Tierspuren sind ausdrücklich erlaubt.
Da kommt man ins Fantasieren: Wie wäre es mit authentisiertem Vintage durch Naturgewalt? Wie würde eine Jeans aussehen, die man ein paar Jahre in die Erde gräbt, auf freiem Feld oder im Wald bei Hagel, Blitz und Donner liegen lässt? Auch ein Tier könnte sich sein Nest darin bauen und mit Kralle und Schnabel seinen Trace darin hinterlassen. Hauptsache die Gebrauchsspur verströmt etwas von Vergänglichkeit und haucht dem textilen Stück mit seinen zwei Beinschläuchen Leben ein. Zeit in langen Zügen atmet im wahrsten Sinne „gut abgehangen“ Finest Vintage bei Larry McKaughan „Heller‘s Café“ in Seattle. Der zum King of Vintage gekrönte Weltmarktführer „abgetragener Denims“ („Patchwork der Geschichte“) trägt selbst nur Neuwertiges. Er hat Respekt vor der „Seele“, die in einer alten Jeans lebt. Diese zu tragen würde ihn beschämen: „Da sind Teile aus dem Military-Umfeld dabei, in denen Menschen kämpften, getötet wurden und vielleicht starben. Die Träger der Before Second World War Jeans waren sicher aus Not gezwungen, ihre Jeans und Jacketts so lange zu tragen, bis sie auseinanderfielen. McKaughan kategorisiert diese very old und used Liebhaber-Vintagstücke eher als ‚Folk Art‘, die besser gerahmt als getragen werden sollten“. So vermachte er das älteste Paar Brown Duck Levi‘s und das älteste jemals gefundenen Paar Levi‘s 501s aus seinem Fundus der Levi Strauss Archivsammlung in San Francisco. Wenn allerdings jemand für ein 1001 Mal getragenes Vintagestück 5.000 Dollar auf den Tisch legt, um es noch persönlich zu tragen, hat der Blue Businessman natürlich nichts dagegen. Mit Warehouse und Co produziert er seit 2007 seine eigene Vintage-Reproduktions-Kollektion.
Fact ist: Der User liebt den Used-Look, wahrscheinlich weil man sich nach der guten alten Original-Jeans sehnt – der eigenen. Zeitzeugen erinnern sich, wie man sein Lieblingsstück, bretthart und zäh wie Leder nach dem Waschen erst einmal eintragen musste. Die neue Generation hingegen passt sich sofort wie eine zweite Haut an. Bei „Veredelungs-“ und Weichmachprozessen durch die typische Denim-Waschung suchen viele verantwortungsvolle Labels der Branche nach neuen Wegen, um die Umweltentlastung zu vermindern. Neben Ökolabels, entwickeln neuerdings immer mehr klassische Traditionsmarken und neu gegründete, reine Jeanslabels faire Jeans mit unterschiedlichen Parametern. Neben dem Upcyceln der Ausgedienten, könnte bei Neuproduktionen der erste Schritt in Individualität und Ökobilanz ein Rückschritt zu einer traditionellen und sehr handwerklichen Herstellung Made in Germany oder im Own Country XY sein. Extrem hohe Qualität und eine übersichtliche Modellauswahl sind wieder Usus. Der Blick auf den internationalen Markt landet natürlich wieder in den nordischen Vorreiterländern. Die Dänen Knowledge Cotton Apparel produzieren bereits seit 40 Jahren mit Bio-Baumwolle. Reine Öko-Männerjeans gibt’s bei Nudie aus Schweden und Kuyichi aus Holland. Das Familienunternehmen Joker Jeans aus dem schwäbischen Bönnigheim setzt bereits seit 1990 auf nachhaltige Produktion. Technologisch neu ist das Bleichen mit Laserstrahlen. Vorreiter wie die spanische Firma Jeanologia geben Green Jeans einen formidablen Used-Touch ohne Chemie. Das Ergebnis gilt als Denim of the Future.
Bei dem vor fünf Jahren im süddeutschen Künzelsau gegründeten Label BLAUMANN kommt alles (außer Denim) aus Deutschland. „Bei uns wurde nie guter Denim hergestellt, das war keine Option. Der weltweit beste kommt aus Japan und zeichnet sich durch ein besonderes Spinnverfahren, hochwertigste Baumwollfasern und spezielle Färbeverfahren aus. Dieses Niveau wird nur von ganz wenigen Produzenten außerhalb Japans erreicht, namentlich in den USA und Italien. Für die 2,5 Meter pro Hose benötigten zahlen wir lieber mehr als für eine fertige Markenjeans aus den üblichen Billiglohnländern“, so Guido Wetzels, einer der vier Gründer, die fast alle aus der klassischen Jeansbranche kommen und die alte Art der Jeans-Produktion in den 90ern in Deutschland erlebt haben. Wie in den Anfangszeiten produzieren sie Männerjeans in drei Passform-Modellen „schmal, extraschmal und gerade“ mit historischer Webkante (Selvedge Denim), Kappnähten und verdeckten Gesäßtaschennieten. Knöpfe, Nieten, Garne und Etiketten kommen aus Deutschland. Die nummerierten Lederetiketten aus strikt limitierten Kleinserien greifen die Idee des Sammlerstücks auf. Der Look: extrem männlich und schon jetzt kultverdächtig. Neuerdings experimentieren sie: mit einem japanischen Webstuhl, auf dem haben sie die ersten Meter ihres eigenen Denims gewebt und erstmals ihre ersten, auf 70 limitierte Frauenjeans damit genäht. Der Blaumann-Workerlook-Spirit ist ganz im Sinne des Erfinders Löb Strauß. In Oberfranken geboren, folgte der Blaumannpionier seinen beiden älteren Brüdern 1847 nach New York und stieg als Levi Strauss in deren Textil- und Kurzwarengeschäft ein. Die Nachricht von Goldfunden an der Westcoast lockte ihn nach San Francisco, wo er 1853 sein eigenes Geschäft eröffnete und den Goldgräbern ihre „Duck Pants“ (Arbeitshosen), die später „Waist Overalls“ hiessen, aus robusten Zeltplanen näht. Schneider Jacob Davis entwickelte das Verfahren zur Verstärkung der Hosentaschen mit Kupfernieten. Am 20. Mai 1873 ging das Patent mit der Nr. 139.121 bis heute auf große Weltmarktreise. Weitere typische Merkmale der klassischen Five-Pocket-Jeans sind damals wie heute die fünf Gürtelschlaufen, Kontrastnähte, zwei Gesäßtaschen, zwei Fronttaschen und rechts eine zusätzlich aufgenietete Uhrentasche. Sechs sichtbare und vier verdeckte Kupfernieten verstärkten die Taschen. Die fünf beweglichen Knöpfe auf der verdeckten Leiste verdecken das Gemächt.
Der Stoff Denim kam per Schiff aus Gênes (Genua), seiner Zeit der größte Ausfuhrhafen für Baumwolle, bei den Amis auch als Sprachbarriere „Jeans“ über die Zunge gerollt. Namenspatron für Denim war das südfranzösische Nîmes – bekannt für exquisite Textilien und den indigoblauen „Serge de Nîmes“. Nur echte Insider wissen, dass es heute in Frankreich keinen guten Denim mehr gibt aber dafür noch ein Atelier „Made in France“ und das ohne Unterbrechung seit 125 Jahren. Vom E-Bass des Newcomer-Catwalks begibt man sich in das stille französische Bergdörfchen Florac im Département Lozère. Wo andere slow den Nationalpark der Cevennen erwandern, halten die drei Brüder Jean Jacques, Jean Pierre et Norbert Tuffery wie Musketiere als artisans confectionneurs de jeans dem Handwerk die Treue. Technischen Innovationen, Wirtschaftskrisen und schnelllebigen Trendbarometern zum Trotz, nähen und maßschneidern sie mit einem kleinen Team von Näherinnen die Slow Jeans Tuff‘s noch von Hand. So gleitet der Stoff direkt von der Stoffrolle auf den Schneidetisch, wo jedes Einzelmodul nach Schablonen mit Kreide vorgezeichnet, ausgeschnitten und montiert wird. Nieten, Knöpfe, Nähte, Unternähte und schließlich die Etikettierung. Dass Urgroßvater Célestin sich 1892 als Tailleur (Maßschneider) ausgerechnet in Florac niederlässt, lag natürlich an der Nähe zu Nîmes. Die Männer- und Frauen-Modelle, wie auch je zwei Modelle classic und modern in je vier Färbungen wurden nach Familienmitgliedern benannt. Das Leder für die Etiketten kommt von einem 100 Kilometer entfernten Manufakturbetrieb. Andere Beiwerke, wie zum Beispiel die Metallknöpfe, werden ebenfalls in Frankreich produziert. „Unsere Designs bleiben klassisch, edel und schlicht im Schnitt. Löcher in den Jeans ist ein No-Go“, so Urenkel Julien, der mit seiner Frau Myriam heute die Vermarktung voranbringt und damit die vierte French Blue-Dynastie repräsentiert. „Wir haben weder Röcke noch Jacken im Sortiment. Aber wir gehen neue Wege und fertigen für einen Pariser Sternekoch edle Küchenschürzen mit Ledereinsätzen“, fügt Julien voller jugendlichem Innovationsdrang noch an. Haptisch kaufen kann man die „Made in France“ nur in Florac oder nach Individualmassen online. Mittlerweile erlag der Name aus marktstrategischen Gründen einer Ent-Amerikanisierung und heißt wieder Tuffery wie sein Urvater – le grand Célestin. Die Alleinstellung, für immer die älteste Jeansmarke zu bleiben, ist in den Denim (aus Norditalien und dem spanischen Baskenland) gewebt.
Wer sich für die Big A-Z Story der „Denim Hunters und Jeans Culture“ interessiert, der schmökere im herrlichen Buch „Blue Blooded“ (Gestalten Verlag, 2016 von Thomas Steger und Josh Sims).
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Der Beitrag Das wirkliche Blau erschien zuerst auf Fashion.